Es war Sonntagmorgen. Arthur Hänni betrachtete seine Notizen und hörte gleichzeitig der nüchternen Stimme von Calvin Russell zu, dessen Song «Crossroads» er so laut laufen liess, dass ihn auch die Nachbarn geniessen konnten:
I’m standing at the crossroads – There are many roads to take
But I stand here so silently – For fear of a mistake
One path leads to paradise – One path leads to pain
One path leads to freedom – But they all look the same
In seinem Fall gab es ebenfalls drei Pfade, jedoch sahen sie sehr unterschiedlich aus. Die einfachste Möglichkeit war, dass sich Tiago einfach aus dem Staub gemacht hatte, weil er nichts mehr von Mia wissen wollte oder eine andere gefunden hatte.
«Dafür müsste er bestraft werden, so dumm kann ja niemand sein», dachte Hänni und verwarf diese Möglichkeit, da sie so gar nicht in sein Männerdenken passte. Möglichkeit Nummer zwei hatte ja Mia bereits angedeutet: Ihre Eltern hatten den Jungen, der ihnen nicht passend erschien, verschwinden lassen. Wie das?
«Natürlich mit Geld, ihrer stärksten Waffe», sinnierte Hänni, «sie haben dem Jungen eine Summe angeboten, die er nicht ausschlagen konnte, und schon war er weg.»
Ein Pfad, den man in Betracht ziehen musste.
Die dritte Möglichkeit schien ihm die wahrscheinlichste: Tiago war in irgendwelche Drogengeschäfte verwickelt, hatte sich mit seinen WG-Leuten zusammen als Kleindealer betätigt und die Kreise grösserer Fische gestört, die im selben Geschäft schwammen. Nun war er entweder auf der Flucht oder er war tot. Sollte letzteres zutreffen, wäre der Fall bereits gelöst und er könnte Frau Burckhardt Bericht erstatten. Kein schlechter Stundenlohn…
Nur konnte Hänni nicht einfach in die Gerichtsmedizin reinmarschieren und das Bild des jungen Mannes mit den Opfern, die dort lagen, vergleichen. Er musste aus erster Quelle erfahren, was in jener WG passiert war. Er hatte viele Fragen: «Wer war der Tote? Welche Rolle spielte die dritte Person? Gab es Hinweise auf die Täterschaft, auf das Motiv? Welche Spuren oder Hinweise hatte man in Tiagos Zimmer gefunden?»
Er wusste auch, wer ihm Antworten dazu geben würde. Sein alter Kumpel Fritz Moser, den er seit gemeinsamen Polizisten-Tagen kannte, also seit einer Ewigkeit. Fritz stand in seiner Schuld, denn er war glücklich verheiratet mit Nicole, die er nur dank Arthur Hänni kennen gelernt hatte. Fritz hatte nie erfahren, dass Nicole und Art mal ein Paar gewesen waren. Das wussten nur zwei Personen auf dieser Welt.
Fritz und Art verbanden noch andere Dinge: Sie hatten die gleiche seriöse Berufsauffassung, den gleichen Humor und beide liebten einen guten Tropfen und eine würzige Zigarre. Die Kiste Zigarren, die nun zur Neige ging, hatte Art von seinem Kumpel geschenkt bekommen.
Obwohl es Sonntagnachmittag war, nahm Fritz Moser den Handy-Anruf von Hänni entgegen.
Arthur kam gleich zur Sache: «Fritz, du musst mir helfen. Kann ich vorbeikommen? Bist du auf der Wache an der Urania?»
Der Angerufene musste laut lachen: «Ich habe zwei freie Tage, schon vergessen? Komm du zu mir nach Stansstad. Würde dir gefallen.»
«Wo bist du? Was machst du in Stansstad?»
«Ich sitze gemütlich in der «Orson Wine & Cigar Lounge», geniesse eine Zigarre unserer Lieblingsmarke und schlürfe einen «Orson-Martini».
«Hast du das verdient?»
«Aber so was von – ich mag die Überstunden gar nicht mehr zählen, die ich noch abbauen soll. Du willst, dass ich dir helfe? Wenn es nicht um Interna geht – gerne. Aber erst am Dienstag.»
Die beiden Freunde verabschiedeten sich und um seinen Kumpel Art ein wenig zu ärgern, schickte ihm Fritz noch ein Foto, in der einen Hand den «Orson-Martini» und in der anderen die Zigarre. Hänni erkannte trotz der leichten Unschärfe des Bildes, dass es eine Zigarre aus der «Davidoff Signature Linie» war.
Hänni und Moser hatten am Dienstag in aller Früh bereits telefoniert und Art hoffte, dass ihm sein Freund Fritz bis am Mittag die gewünschten Antworten liefern würde. Sie trafen sich mittags auf dem Lindenhof, um sich in einen ruhigen Winkel des Platzes, fernab von Touristen, Schachspielern und Schulklassen, zu verziehen.
Moser war in Eile und schien diesmal nur mit einem Ohr zuzuhören, nachdem er sich beim frühen Telefon sehr geduldig gezeigt hatte.
Plötzlich stand er auf.
«Tut mir leid, Art, aber bei uns ist zu viel los, ich muss wieder zurück. Ich kann dir im Moment noch nicht alle deine Fragen beantworten, aber in der Zeitung erschien bereits der erste Artikel zum Fall.»
Mit diesen Worten übergab er Hänni eine zusammengefaltete Tageszeitung, verabschiedete sich und marschierte los in Richtung Hauptwache Urania.
Hänni steckte die Zeitung ein, schlenderte in die gleiche Richtung und sass schon bald im Bus nach Hause. Leicht enttäuscht setzte er sich an seinen Arbeitsplatz und blätterte in seinen Notizen. Auf keine seiner Fragen hatte er eine Antwort erhalten. Er erinnerte sich an die Zeitung, holte sie aus seinem Mantel und suchte den Artikel zum Toten aus der WG. Zwischen den Todesanzeigen und den Fernseh-Programmen lagen drei A4-Seiten: Fotokopien von Polizeiakten. Vertrauliches zu seinem Fall.
«Danke Fritz, du alter Gauner!», murmelte Hänni.
Er war zufrieden. Die meisten seiner Fragen waren beantwortet. Der Tote war definitiv nicht Tiago, und gemäss Aussagen einer gewissen Kaja, dem dritten Mitglied der WG, hatte er mit den Drogen nichts am Hut. Er sei auch auf dem Absprung gewesen und habe eine neue Bleibe gesucht. Damit war die wahrscheinlichste der Möglichkeiten vom Tisch und der zweite Pfad, die Familie Burckhardt, rückte wieder in den Fokus. Doch Tiago war offensichtlich nicht mit dem Geld der Familie abgehauen, denn in seinem Zimmer hatte die Polizei keine Hinweise darauf erhalten. Pass, Schlüssel, etwas Geld, Klamotten: Alles war noch dort. Etwas stimmte nicht. Je länger Arthur Hänni darüber nachdachte, umso mehr kam er zur Überzeugung, dass der junge Freund der hübschen Mia die WG nicht freiwillig verlassen hatte, sondern gegen seinen Willen.
Morgen würde er seinen Auftraggebern etwas auf den Zahn fühlen.

Arthur Hänni hatte schlecht geschlafen. Albträume hatten ihn geplagt, in denen ein junger Mensch in Gefahr gewesen war, und er hätte ihn retten können. Doch er hatte die Hütte in den Bergen, in welcher er den Jungen vermutete, nicht erreichen können, denn er war immer mehr im hohen Schnee versunken. Und als er bereits in Sichtweite der Hütte angelangt war, war der Schnee in Sekunden geschmolzen und Hänni war plötzlich von reissendem Wasser mitgerissen worden, während er glaubte, die Schreie des Jungen gehört zu haben. Dann war er aufgewacht. Sein Wecker hatte zehn nach fünf angezeigt.
Etwas stimmte nicht.
«Hatte Tiago das Geld, das ihm sicher angeboten worden war, abgelehnt? Waren Mias Eltern deswegen in Panik geraten, weil Mia davon erfahren würde? Hatten sie Tiago entführt? Aber wohin?» Hänni wusste von Mia, dass die Familie in St. Moritz ein Chalet besass. «War der junge Mann dort?»
Das war viel zu aufwändig. «Er ist hier», murmelte Hänni vor sich hin, «er ist in der Nähe und womöglich in Gefahr.» Er versuchte sich nochmals an seinen Besuch in der Villa am Zürichberg zu erinnern. Was hatte er dort gesehen, was könnte ihm auf die Spur helfen? Er sah den Salon vor seinem geistigen Auge, den Humidor, die Sitzgruppe, die Bar, das Sideboard mit den Fotos. Was hatten die Bilder gezeigt? Das Louvre in Paris, einen Golfplatz, die Orson Lounge in Stansstad und da waren noch diese Wappen…
Blitzschnell war er am Schreibtisch und startete seinen Computer. Nach wenigen Clicks hatte er es gefunden. Die Frau auf dem Wappen war die heilige Verena, und die extravagante Frisur war keine Frisur, sondern ein Heiligenschein: das Wappen von Stäfa. Ein weiteres Bild tauchte in seinen Erinnerungen auf, ein Segelschiff, Frau Burckhardt, Wasser, aber im Hintergrund ein Ufer. Das war kein Meer, das war der Zürichsee. Die Burckhardts segelten auf dem Zürichsee. Und in Stäfa war ihr Anlegeplatz. «Nein», rief Arthur
Hänni in die morgendliche Stille, «kein Platz, ein Bootshaus. Sie haben ein Bootshaus in Stäfa, und dorthin haben sie den Jungen verschleppt!»
Kurz nach sechs Uhr bestieg Hänni am Zürcher HB die S7 nach Stäfa. In Rekordzeit hatte er sich fertig gemacht, einen Plan der Gemeinde Stäfa ausgedruckt und diesen mitsamt einem Pfefferspray – man wusste ja nie – in seinen Rucksack gepackt. Eine halbe Stunde später stieg er am Bahnhof Stäfa aus und eilte zum nahen See. Am Hafen schaute er in Richtung Zürich. Da waren ein Seebad und eine Segelschule. Er folgte der Seestrasse nach links, Richtung Rapperswil, und schon bald bemerkte er einige Häuschen, die in grösseren Abständen voneinander direkt am Wasser lagen. Bootshäuser!
Er hatte kaum ein Auge zugetan. Er war zwar hundemüde, doch die Gelenkschmerzen liessen höchstens zu, dass er für ein paar Minuten wegdöste. Die halbe Nacht hatte er versucht, Holzsplitter vom Holzboden unter ihm zu entfernen. Trotz der gefesselten Hände. Er musste etwas tun, denn er war jetzt sicher, dass er sterben würde. Der Typ war gestern Abend wieder aufgetaucht, hatte ihm Wasser und Käsebrot gebracht. Er hatte ihm die Augenbinde abgenommen, nachdem er seine Sturmmütze weggerissen hatte. Er hatte dem Typen nicht in die Augen geschaut, sondern auf dessen Tattoos am Hals. Trotzdem – er könnte ihn wiedererkennen, und der Entführer wusste das. Fluchend hatte er die Hütte verlassen. Er hatte einen Fehler begangen. Und dieser Fehler würde dem Entführten das Leben kosten, denn nun war er ein Risiko für den Täter.
Mit aller Kraft begann er erneut, das Holz zu bearbeiten. Mit den Füssen, immer wieder dieselbe Stelle. Mit dem Gewicht seines ganzen Körpers, immer wieder, trotz grosser Schmerzen. Er spürte sie kaum noch. Sein Leben stand auf dem Spiel.
Ein schwaches Licht drang in die Hütte, es musste früher Morgen sei. Der Typ konnte jederzeit zurückkehren. Er schlug wie wild mit seinem Körper gegen den Boden, und da, endlich, es knirschte, knackte, das morsche Holz bewegte sich, etwas gab nach. Er schlug und wälzte sich noch heftiger, plötzlich gab der Boden nach, sein Kopf fiel nach unten und war unter Wasser. Er strampelte noch heftiger mit seinen Füssen, auch hier gab das Holz leicht nach, doch sie blieben stecken. Entsetzen packte ihn und er stemmte seinen Oberkörper aus dem Wasser, atmete, keuchte. Er fand nirgends Halt. Seine Füsse konnte er nicht bewegen. Erneut fiel sein Kopf unter Wasser, er hielt den Atem an, tauchte wieder auf, hielt sich mit seiner Muskelkraft, erlahmte wieder. Er versuchte hochzuschnellen und sich auf die Seite zu werfen, doch auch hier brach nun das Holz ein. Wieder tauchte er unter, hievte sich erneut hoch, sein Atem ging schneller, seine Muskeln hielten ihn über Wasser. Er spürte, wie sie müder wurden, wie er immer kürzere Zeit Luft hatte, wie sein Kopf immer länger unter Wasser war. Lange hielt er es nicht mehr aus. Er hörte, wie sich jemand an der Türe zu schaffen machte: Der Typ war zurückgekommen. Langsam glitt sein Oberkörper unter Wasser.
Er entspannte sich.