Hänni lauschte an der Tür und hörte Geräusche, es klang nach Gurgeln, nach Wasser und nach keuchendem Atmen. Er erschrak: «Hier wird jemand gefoltert!» Er rüttelte an der Klinke. Natürlich verschlossen. Er wuchtete seinen Körper gegen die Holztüre, die sofort nachgab, stolperte in das Bootshaus, erblickte einen Menschen, dessen Füsse im morschen Holz steckten und dessen Oberkörper sich unter Wasser befand. Hänni riss ihn augenblicklich aus dem Wasser, hielt ihn fest, befreite dessen Füsse mit gezielten Tritten aus dem Holz, rollte ihn auf die Seite und begann mit den lebensrettenden Massnahmen. Erst jetzt sah er, wen er vor sich hatte: Es war der Gesuchte, Mias Verlobter, Tiago.
Arthur Hännis Wohnung war aufgeräumt und strahlte in Hochglanz. Art hatte keine Kosten gescheut und im Comestibles-Geschäft eingekauft. Ein teurer Rotwein aus dem Ribera del Duero war bereits entkorkt und diverse Tapas lagen bereit. Im Davidoff of Geneva-Store am Bahnhofplatz hatte er sich nicht entscheiden können: Wäre die «Davidoff Winston Churchill Late Hour» passend, die er gerne am Abend rauchte, oder die «Davidoff Royal», die ihm für diesen speziellen Anlass geeignet schien? Egal, Hänni kaufte von beiden; der besondere Moment und sein alter Polizei-Kumpel Fritz Moser waren es wert.
Art hatte sich sogar daran erinnert, dass Fritz einige Tage in Stansstad verbracht und von der «Orson Wine & Cigar Lounge» und diesem Drink geschwärmt hatte. Also hatte er Gin STR, Ginger-Beer, Limetten und Gurken eingekauft und seinem Freund einen «Orson Mule» gemixt. Nicht ganz so unwiderstehlich wie das Original, aber annähernd.
Pünktlich zur Hauptausgabe der Tagesschau trudelte Fritz ein. Sie schauten schweigend die News und genossen zuerst den «Orson Mule», später Wein und Tapas. Danach drehten sich ihre Gespräche um die aktuellen Schlagzeilen, um gemeinsame ex-Kollegen, die Wanderferien der Mosers in Sedrun und um Fussball. Erst als Hänni die zweite Flasche Wein öffnete, getraute er sich nach dem Bootshaus-Fall zu fragen.
«OK, Art, du weisst schon», begann Moser, «dieses Gespräch hat nie stattgefunden und du wirst diese Infos nicht gebrauchen, bevor sie nicht offiziell sind.» Art nickte.
«Es war, das haben wir einwandfrei feststellen können, weder eine Milieu- noch eine Drogengeschichte. Die Entführung und der Fall des Toten aus der WG haben nichts miteinander zu tun. Ausser, dass die jungen Männer seit ein paar Monaten die Wohnung teilten. Es war eine Familiensache: Wir haben Frau Burckhardt und ihren Gärtner festgenommen. Sie werden wegen der Entführung des jungen Mannes, den du gerettet hast, angeklagt. Der Gärtner war nur das ausführende Werkzeug, er hat dafür Geld erhalten. Die Burckhardts haben sich gegenseitig die Schuld zugeschoben, doch die Beweise sprachen gegen die Frau. Wir mussten ihren Ehemann laufen lassen, wir hatten gegen ihn nichts in der Hand.»
«Welche Beweise hattet ihr?»
«Die Zahlungen für den Gärtner kamen vom Bankkonto von Frau Burckhardt, und vor allem: Er hat gegen sie ausgesagt. Es sei ihr Plan gewesen und sie habe ihm bei der Durchführung geholfen. Zudem fanden wir ihren Perlenohrring im Bootshaus. Wir vermuteten eine Beteiligung ihres Mannes, doch der Gärtner verneinte dies und es gab keine Beweise.»
«Was war denn der Plan, und das Motiv?», wollte Art wissen.
«Sie wollte den jungen Mann von ihrer Tochter, von ihrer Familie fernhalten. Mit allen Mitteln. Anscheinend hatte sie ihm zuerst Geld geboten, was er abgelehnt hatte. Schien echt verliebt zu sein, der Junge. Dann wollte sie ihn einschüchtern, bedrohen. Wie die Entführung enden sollte, da hatte sie überhaupt keinen Plan. Irgendwie stümperhaft, das Ganze.»
«Und dazu noch einen Ermittler engagieren… das macht doch keinen Sinn.»
«Sie musste es tun, denn die Tochter machte Druck, wollte zur Polizei gehen. Das wirst du jetzt nicht gerne hören, Art: Sie wollte keine der grossen Agenturen engagieren, sie hoffte auf deinen Misserfolg … nicht meine Worte», fügte Moser rasch hinzu.
«Da hat sie sich aber gewaltig getäuscht», brummte Hänni und zog an seiner «Davidoff Royal». Er hatte sie hinter Gitter gebracht und dafür ein fettes Honorar bezogen. Er war zufrieden.
Kurz vor Mitternacht stand Fritz auf, zog seine Jacke an und bedankte sich für den Abend. Art wollte ihn mit der gewohnten kurzen Umarmung verabschieden, doch Fritz trat einen Schritt zurück.
«Warte, du zerdrückst mir ja mein Mitbringsel! Hätte ich beinahe vergessen.»
«Mitbringsel?»
«Natürlich, macht man doch so, wenn man eingeladen wird. Alte Schule eben.»
Mit diesen Worten zog Fritz zwei Zigarren aus der Jacke und überreichte sie seinem Freund.
«Habe ich in Stansstad entdeckt.»
Art betrachtete die Banderole. Er erkannte das Porträt von Orson Welles, darunter das Wort «Othello».
«Eine Othello? Kenne ich noch nicht.»
Fritz ergänzte: «Eine «Orson Othello Toro Grande», um genau zu sein. Ein Genuss. Wird dir gefallen.»
Art bedankte sich und zog hinter seinem Freund die Türe zu.
Am nächsten Morgen erwachte Arthur Hänni viel zu früh, denn er hatte erneut Besuch bekommen. Nicht von seinem Kumpel Fritz Moser. Den hatte er nach Mitternacht nach Hause geschickt. Der heutige Besuch war ein Tier, genauer gesagt ein fetter Kater. Was ihm ein ungutes Gefühl in der Magengegend und starke Kopfschmerzen bescherte. Kein Wunder: Sie hatten beide zu viel geraucht und zu viel getrunken. Doch bereits am Nachmittag ging es ihm besser. Das komische Bauchgefühl jedoch blieb. Und es war nicht der Alkohol, sondern es ging um den Fall. Schon einmal hatte ihn sein Bauchgefühl auf die richtige Spur gebracht und ein Menschenleben gerettet. Er musste nochmals zur Villa am Zürichberg, dies sagte ihm sein Gefühl, und er würde darauf hören.
Arthur Hänni hatte Glück. Kaum hatte er geklingelt und seinen Namen genannt, hörte er, wie jemand über den Hof rannte. Es war Mia, welche die Türe aufriss und ihm um den Hals fiel.
«Tiagos Retter und mein Held!»
Hänni lief rot an und liess sich etwas Zeit, ehe er sich aus der Umarmung befreite. Mia lächelte ihn an, doch gleichzeitig schien sie traurig zu sein.
«Nehmen Sie bitte Platz und bedienen Sie sich», sagte sie im Salon und zeigte auf die Bar.
«Ich hole meinen Vater, er ist wohl unten im Fitnessraum.»
Sie entschwand, bevor er sich bedanken konnte. Mehr aus Neugier schlenderte er zur Bar, denn er wollte ganz sicher keinen Alkohol trinken. Auf dem hintersten Barhocker lag eine Ledermappe. Der Reissverschluss war offen, und Hänni konnte nicht widerstehen. Er horchte in Richtung Tür, niemand schien in der Nähe zu sein. Rasch wühlte er durch die Sichtmäppchen und Papiere, meist waren es Bankbelege, lautend auf ihn, oder seine Frau oder auf beide. Hastig überflog er einige Belege. Herr Burckhardt war offensichtlich bei allen Konten unterschriftsberechtigt. Als er die Belege zurücklegte, ertasteten seine Finger einen kleinen Gegenstand. Er nahm ihn aus der Mappe, betrachtete ihn und nun war ihm klar, wie es gelaufen war.
«Herr Hänni, entschuldigen Sie, dass ich Sie warten liess.»
Herr Burckhardt im sportlichen Outfit, gefolgt von Mia, betrat den Raum und ging auf den Ermittler zu, der sich rechtzeitig von der Bar entfernt hatte.
«Ich nehme an, Sie sind hier wegen der Restzahlung? Ich habe sie bereits veranlasst. Gibt es da ein Problem?», fragte Burckhardt.
«Ich bin nicht wegen des Geldes hier, sondern wegen der Wahrheit», erwiderte Hänni trocken.
«Ich verstehe nicht ganz… der Fall ist doch aufgeklärt?»
«Ja, das ist er. Aber der wahre Schuldige wurde noch nicht genannt.»
«Von wem sprechen Sie?»
«Ich spreche von Ihnen!»
Burckhardt war sichtlich irritiert. Verärgert sah er Hänni an: «Ich weiss nicht, was Sie von mir wollen. Ich möchte dazu auch nichts mehr hören und ersuche Sie…»
«Aber ich möchte hören, was Herr Hänni zu sagen hat», wurde er von seiner Tochter unterbrochen.
«Ihre Eltern wollten anfänglich Ihren Freund mit Geld von Ihnen fernhalten», wandte sich der Ermittler an Mia, «dann erkannte aber Ihr Vater, dass er mit einer Entführung gleich zwei Personen entfernen konnte: Ihren Freund und Ihre Mutter. Er liess die Tat so aussehen, dass alle Beweise gegen Ihre Mutter sprachen. Sie würde ihn zwar beschuldigen, doch es würden keine Beweise gegen ihn existieren, dafür hatte er gesorgt. Er konnte sich sowohl auf die Aussagen des Gärtners verlassen wie auch auf das Beweisstück gegen seine Frau, den Ohrring, den er im Bootshaus platziert hatte. Die Tat musste nur ans Tageslicht kommen, und seine Frau würde aus seinem Leben verschwinden. So wäre er frei für sein ausschweifendes Leben mit seinen Geschäftspartnerinnen von der Langstrasse.»
Während Hännis Rede war Burckhardt bleicher und unruhig geworden, jetzt hatte er sich wieder im Griff und schrie: «Eine unverschämte Lüge ist das! Sie haben null Beweise! Was erlauben Sie sich, in meinem Haus eine solche Anklage zu erheben?!»
Arthur Hänni erhob sich ganz ruhig.
«Ich bin nicht Ihr Ankläger, ich bin Ihr Richter. Ich habe Sie bereits verurteilt, im moralischen Sinne: Sie sind schuldig. Ob dies als Beweis reicht, um Sie auch juristisch zu verurteilen, weiss ich nicht.»
Mit diesen Worten warf er den kleinen Gegenstand, den er vorhin in Burckhardts Mappe gefunden hatte, Mia zu, die ungläubig und entsetzt dreinschaute. Es war der zweite Perlenohrring von Frau Burckhardt.
«Es tut mir sehr leid für Sie», wandte sich Hänni an die Tochter. Dann sah er deren Vater an:
«Bemühen Sie sich nicht, ich finde hinaus.»
Zwei Tag später überquerte Arthur Hänni, vom Hotel Storchen kommend, die Rathausbrücke. Er war bester Laune, denn soeben hatte er telefonisch ein verlängertes Wochenende im «Grand Hotel Quellenhof» in Bad Ragaz gebucht. Er freute sich auf die gastronomischen Höhepunkte, die er dort geniessen würde, und vor allem auf die Abende mit einer guten Zigarre in der exklusiven «Davidoff Lounge».
«Hallo Hänni!»
Auf dem Betonsockel in der Brückenmitte sassen Mia und Tiago, mit dem Rücken an den Kandelaber gelehnt, und lächelten ihn an. Er winkte ihnen kurz zu, lächelte zurück, dann lief er weiter Richtung Limmatquai. An der Ecke des Rathauses dreht er sich nochmals um und beobachtete die beiden. Ihr Kopf lag auf seiner Schulter, sie liessen die Füsse über der Limmat baumeln und schienen das fliessende Wasser unter ihnen und die weiss gepuderten Alpen vor ihnen zu betrachten. Lange stand Hänni noch da, schaute ihnen zu und hing seinen Gedanken nach. Die Limmat floss ruhig und stetig, genährt vom schmelzenden Schnee der weit entfernten Berge und vom einsetzenden Regen, floss hinter ihnen weiter nach Norden, vereinte sich mit anderen Flüssen, wurde Strom, dann Meer – der ewige Kreislauf des Wassers und des Lebens.
